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Dienstag, 18. Juni 2024

Erschuf Gott Eva aus Adams Rippe?

Jeder kennt die Geschichte aus der Genesis: Zuerst gibt es nur Adam. Dann vollzieht Gott (wenn man den Text wörtlich auslegt) eine Operation an ihm und erschafft aus seiner Rippe Eva. Doch fundamentalistische Auslegungen führen selten zu tiefem Verständnis. Enthüllen wir die wahre, mystische Bedeutung des Textes!

Das hebräische Wort für „Rippe“ ist Tsela. Tsela kann zwar Rippe heißen, wird in der Bibel aber viel häufiger im Sinne von „Seite“ verwendet – so wie die Seiten einer Truhe. Das Wort kommt im Alten Testament ganze 41 Mal vor, aber nur in der Geschichte von Adam und Eva bedeutet es „Rippe“. Wenn wir verstehen, wie die Bibel das Wort in den meisten Fällen verwendet, können wir auch die Bedeutung des Mythos von Adam entschlüsseln! Sehen wir uns das Wort also genauer an.

In 5 der 41 Verwendungen bezeichnet Tsela die zwei gegenüberliegenden Seiten der Bundeslade (ja, die von Indiana Jones). Dann bezeichnet es in Exodus mehrfach die vier Seiten eines Tabernakels, jenes Schreins, in dem die Hostie verwahrt wird. Dann bezeichnet es die zwei Seiten eines Altars. In Samuel wird es verwendet, um einen Berghang, also die Seite eines Berges, zu beschreiben. In Ezekiel bezeichnet das Wort mehrfach die vier Seiten eines Hauses. Dann gibt es noch eine Verwendung in der Phrase „das Unheil ist an seiner Seite“.

Das Wort Tsela, das nur im Mythos von Adam und Eva zur „Rippe“ wird, bezeichnet also immer die Seiten derselben Sache. Wir nähern uns der Lösung des Rätsels.

Die aufschlussreichste Verwendung finden wir jedoch im Buch Könige: Dort bezeichnet das Wort die zwei Hälften einer Flügeltür. Die Symbolik ist interessant: Die Tür ist eins, besteht aber aus zwei Seiten – eine Dualität!

Dualitäten spielen in Religionen und in der Spiritualität eine große Rolle. Unsere Welt ist von Dualitäten geprägt, auch von der Dualität von Mann und Frau. Der Mythos verdeutlicht, dass der Mensch erst im Zuge des Falls (der Vertreibung aus dem Paradies) in die Welt der Dualität gelangte!

Daraus folgt, dass der ursprüngliche „Adam“ überhaupt kein Mann ist, denn im wahren paradiesischen Zustand gibt es die Unterscheidung von Mann und Frau noch gar nicht!

 Adam verstanden die Mystiker vielmehr als engelsgleiches Wesen, das erst später in die Welt der Materie und Biologie eintritt. Sehen wir uns einige der Belege dazu an, bevor wir mit der Analyse fortfahren:

"Adam war ursprünglich androgyn", sagt der Religionswissenschaftler Jacques Menard.[i]

Der Zohar, das Hauptwerk der jüdischen Mystik, besagt: „Adam ist sowohl männlich als auch weiblich“; "Männlich und weiblich werden somit beim Eintritt in diese Welt getrennt."[ii]

Die Religionswissenschaftlerin Catherine Kavanagh schreibt: "So wie der Mensch ursprünglich geschaffen wurde, war er weder männlich noch weiblich, sondern das perfekte Abbild Gottes. […] Die Trennung der Geschlechter war das Resultat des Falls."[iii]

Carl Jung schrieb: "Vor der Erschaffung von Eva war Adam, verschiedenen Traditionen zufolge, sowohl männlich als auch weiblich."[iv]

Der christliche Mystiker Jakob Böhme schrieb: "Adam war das Abbild Gottes, er war Mann und Frau, und doch keines davon."[v]

Der Mythos besagt also nicht, dass die Frau aus dem Mann entsteht. Mann und Frau entstehen beiderseits aus einem nicht-dualistischen Zustand!

Das Wort Tsela ist also genauso zu verstehen, wie es in der Bibel zumeist verwendet wird, nämlich als die "Seiten" ein und derselben Sache: Eine Flügeltür ist eins, und besteht doch aus zwei Seiten, so wie die Menschheit eins ist, und doch aus Mann und Frau besteht. Das Wort verdeutlicht somit eine symmetrische Dualität.

Die Entstehung aus der Rippe ist ein Wortspiel

Die Idee einer symmetrischen Dualität geht bei der Übersetzung als "Rippe" natürlich völlig verloren. Die Genesis verwendet das Wort Tsela, das sowohl Rippe als auch Seite heißen kann, offensichtlich als Wortspiel, um die Teilung von Mann und Frau buchstäblich als Operation an der Seite Adams darzustellen. 

Mythen wie diese dürfen nie wörtlich ausgelegt werden! Sie müssen interpretiert werden wie symbolhafte Theaterstücke. Der Mythos beschreibt also nicht Gott als Chirurg, sondern den Eintritt der Seele in eine Welt der Dualitäten.

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Kleiner Nachtrag: Ein Leser hatte folgenden Einwand, der aber auf einem kleinen Missverständnis beruht:

"Interessante Deutung, nur wenn die Welt symmetrisch wäre, gäbe es keine Bewegung. Sie wäre tot."

Meine Antwort: "Das Wort Symmetrie meint nicht, dass die zwei Seiten einer Dualität völlig gleich wären. Das sind sie ja nicht, sonst wäre es keine Dualität, sondern eine Einheit. Das Yin-Yang-Symbol ist symmetrisch (bzw. beide Seiten sind gleichförmig), und doch verdeutlichen die zwei Seiten verschiedene Qualitäten. Du kannst dir also, wenn du willst, eine Flügeltür vorstellen, deren linke Seite weiss, und deren rechte Seite schwarz ist."

Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir die Rippe von Adam wie der schwarze Fleck in der weissen Hälfte des Yin-Yang-Symbols. Wir könnten also sagen: Eva ist die Rippe von Adam, und Adam die Rippe von Eva.

 

 

 

 



[i] Menard, Jacques E. »Beziehungen des Philippus- und des Thomas-Evangeliums zur syrischen Welt« In: Tröger. Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis: Neue Studien zu »Gnosis und Bibel«. S. 323

[ii] Zohar Englisch, Ekev, Kap. 4, Synopsis; Zohar Englisch, Tazria, Abs. 24. http://www.phoenixmasonry.org/The_Book_of_Zohar.pdf, oder: http://tiny.cc/zoh

[iii] Kavanagh, Catherine. »The nature of the soul according to Eriugena«. In: Elkaisy-Friemuth. The Afterlife of the Platonic Soul. S. 89

[iv] Jung. The Collected Works, Vol. 9ii: Aion. Abs. 319, 320

[v] Boehme. Mysterium Magnum, Vol. 2. S. 82. Kap. 41:23