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Sonntag, 23. August 2015

Gedanken-Einschub: über eine "traurige Gestalt" unserer Gesellschaft

Wenn man in die spirituellen und mythologischen Quellen geht, dann ist nicht zu übersehen, was für einen großen Stellenwert offenbar das Beurteilen hat. Es ist das was uns als vernünftige Ego-Menschen ausmacht, wir sind sozusagen durch und durch beurteilende Wesen, was verschiedene gravierende Folgen hat, was ich ja in den letzten Tagen in der Gedanken-Serie beschrieben habe. Die spirituellen Lehrer stellen die Frage auf: gibt es etwas jenseits davon? Nicht ob unser beurteilender Verstand gut oder schlecht ist. Wir fragen ja auch nicht, ob Schwimmflügel gut oder schlecht sind. Sondern ob es auch anders geht... in dem Fall, ob es auch "ganzheitlich" geht. Ob es eine Wahrnehmungsart gibt, die nicht auf beurteilen (und somit auf zerteilen) beruht. Eine bestimmte mythologische Figur repräsentiert dieses uralte Problem so gut wie keine andere, ein Aushängeschild unserer zivilisierten Gesellschaft:

eine traurige Gestalt
Wir Menschen halten immer das "Richtschwert" bereit. Wir können gar nicht anders, denn urteilende Wahrnehmung ist teilende Wahrnehmung. Alles was wir sehen, bemessen wir und legen es auf die zwei Waagschalen der Dualität. Das Bemessen und Urteilen ist das was unser Verstand am besten kann, er kann gar nichts anderes, und trotzdem hat uns das blind gemacht. Wir sehen von allem nur die oberste Schicht, die Schicht der Dinge, Fakten und Tatsachen. Alleine das Wort Tatsache hat inzwischen den Beigeschmack der Verurteilung und Juristensprache. Alles was wir tun kann potentiell dazu führen dass das Richtschwert auf uns niederkracht, unser eigenes oder das anderer Menschen. Zumindest auf der subtilen, psychologischen Ebene ist das immer so. Wir teilen uns dadurch aber selbst, und sind im psychologischen Sinne geteilte, dualistische Wesen, wie ich im letzten Artikel beschrieben habe. Und als solche sind wir nie fähig, die ganze Wahrheit zu sehen.

Das Beurteilen und Bemessen hat uns blind gemacht, sagen die Mystiker. Und über die Jahrtausende bildete sich - aus bewussten oder unbewussten Gründen - diese Figur, die ein exaktes Symbol für uns ist. Das sind wir, "blinde" Menschen, die trotzdem immer mit dem Schwert der Verurteilung wedeln. Niemand würde einer blinden Person ein Schwert in die Hand drücken, aber trotzdem wird in unserer Zeit die Augenbinde als große Errungenschaft gesehen. Wir nennen das "Objektivität", und sind stolz darauf .

Der Mensch muss ausgeklammert werden, weil Tatsachen zählen. Wir haben also nicht nur die so genannte Subjekt-Objekt-Trennung erschaffen, sondern zwischen beidem herrscht oft ein ziemliches Ungleichgewicht. Die "fehlerhafte" Subjektivität muss zurückweichen für die "Objektivität". Und zwar, weil wir resignierend einsehen mussten, dass der Mensch unzurechnungsfähig und nicht vertrauenswürdig ist. So wie auch in der Wissenschaft der Mensch so weit wie möglich aus der Rechnung genommen werden muss, damit diese am Ende stimmt. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir am besten funktionieren, wenn man das menschliche weg nimmt. Jeder Wissenschaftler und Anwalt wird natürlich sagen, dass das so sein muss, und dass das ein großer Fortschritt für die Menschheit ist. Das mag es ja gewesen sein in der Vergangenheit, aber wo geht die Reise hin? Wollen wir für immer blind sein? Geht es auch anders? Gibt es Möglichkeiten, die Augenbinde abzumachen, und trotzdem "richtig" und "gut" zu leben? Ohne Selbstverleugnung? Ohne die Augen vor sich selbst zu verschliessen?

"Ich sehe.. äh gar nichts"
Wenn die Objektivität so wichtig ist, macht man sich irgendwann selbst zum Objekt. Wir sagen: "Ich bin völlig objektiv!" als wäre es die größte Auszeichnung, aus sich selbst ein Ding zu machen. Wir haben irgendwann eingesehen, dass unsere menschliche Wahrnehmung nicht so recht "das Wahre" ist, und haben den Versuch aufgegeben, klar sehen zu können. Wir haben uns zähneknirschend die Augenbinde raufgemacht, weil das Leben mit den Augen dahinter einfach nicht funktionieren will. Aber eine wahre Lösung haben wir nicht gefunden.

Was das für problematische "Augen" sind  habe ich ausführlich in der genannten Artikelreihe beschrieben. Es ist die Art des menschlichen Verstandes zu schauen - und es ist das, was die Trennung zwischen Objekt und Subjekt erst erzeugt! Und es ist auch das, was alle unsere Probleme erzeugt, und dann versuchen wir durch das Urteilsvermögen der selben Augen wieder Ordnung zu schaffen. Kann das funktionieren?? Das ist ein Spiel das man endlos betreiben kann. Die einzige wahre Lösung ist aber diese Augen, unser Bewusstsein zu verändern. Sie einfach zuzubinden ist wohl kaum eine Dauerlösung, oder?

Das was wir "Subjekt" und "Objekt" nennen sind beides Hälften in uns, die für sich genommen unvollständig sind. Es macht wenig Sinn, mal das eine, mal das andere vorzukehren. Kann beides vereint werden? Damit etwas Ganzes entsteht, das größer ist als die Summe seiner Teile? Die Philosophen sagen, prinzipiell ja. Die religiösen Menschen wünschen es sich. Manche Menschen machen es vor. Die Trennung ist unsere eigene Illusion, ein psychologisches Phänomen. Das Schwert selbst ist es was uns zweiteilt und blind macht. Und so stolpern wir herum, halten stolz unsere Dualität über alles, berurteilen uns selbst und andere, und haben doch keine Ahnung von nichts.
"Ich war blind, aber ich kann wieder sehen" sagte der geheilte Bettler und warf sich vor ihm nieder.
"Ich bin in die Welt gekommen, um solche, die nicht sehen können, zum Sehen zu bringen und denen, die sich für sehend halten, zu zeigen, dass sie blind sind." sagte Jesus.
"Sind wir etwa auch blind?" fragten die Menschen, die in der Nähe standen.
"Wenn ihr blind wärt", entgegnete Jesus, "dann wärt ihr ohne Schuld. Weil ihr aber behauptet, Sehende zu sein, bleibt eure Schuld bestehen."