Sonntag, 10. Mai 2020

Das Erwachen der Verschwörungstheoretiker

"Erwachen" ist ein missbrauchtes Wort, das heutzutage inflationär verwendet wird. Was bedeutet es, "zu erwachen"? Selbst wenn wir gar keine eigene Erfahrung davon haben, was Mystiker damit meinen, so können wir doch sehr leicht beantworten, was Erwachen NICHT ist. Erörtern wir deshalb den gewaltigen Unterschied zwischen dem "Erwachen" der Verschwörungstheoretiker und dem Erwachen der Mystiker.

In der Welt gibt es heutzutage überraschend viele Erwachte. Sie sind Erwachte, weil ihnen die Regierung nicht zusagt, und weil sie die Nachrichtensprecher und Zeitungen nicht mögen. Sie nennen sich erwacht, weil sie das Vertragskonstrukt des Staates ablehnen, und weil sie bestimmte Industriezweige für verdächtig halten. "Wacht doch endlich auf!", lautet der Aufruf in diesen Kreisen. Und Aufwachen meint, die eine Partei zu wählen, und nicht die andere, oder gar keine Partei, oder den Fernseher wegzuwerfen. Oft bedeutet es, ein bestimmtes Feindbild anzuerkennen. Wer das nicht tut, ist ein Schlafschaf. Hier kommen wir in einem Rutsch zum Thema der Verschwörungstheorien.

Was sind Verschwörungstheorien? Sie bauen ein Feindbild durch eine Geschichte auf, in der man selbst der Belogene, der Hintergangene, Manipulierte, Unterdrückte, kurz: das Opfer ist. Je stärker man dieses Feindbild des Bösen aufbaut, desto mehr ist man der "Gute". Man ist auch der Gescheite, der den Plot erfolgreich durchschaut hat. Das Anerkennen der Theorie suggeriert schon eine Art von Erwachen. "Ich wusste ja gar nicht, dass die dort oben das mit uns machen! Andere wissen das noch nicht." Das Produkt, das eine Veschwörungstheorie verkauft, ist aber vor allem eines: Emotion. Emotion ist die Nahrung des Egos, welches sich als Protagonist in der Geschichte definiert. Man wird selbst zum Helden, der das Böse erfolgreich entlarvt, anprangert, bekämpft und irgendwann ausmerzt. Eine verführerische Idee, die dieser Spielfilm im Kopf anbietet! Ein solches Feindbild kann z.B. die pädophile Hollywood-Elite sein, die - so viel steht fest - Kinder foltert und deren Adrenalin schlürft, um sich frisch und jung zu halten (ja, das ist heutzutage wirklich eine gewöhnliche, durchschnittliche VT, Stichwort "Adrenochrom"). Der emotionale Kaloriengehalt dieses Feindbildes ist verständlicherweise hoch. Verschwörungstheorien brauchen also immer einen guten Bösewicht.

Dem Leser entgeht wohl nicht die Ironie, wenn der Bösewicht der Geschichte Hollywood, die Geschichtenschmiede, ist. Ja, die Verschwörungstheoretiker sind tatsächlich Opfer Hollywoods, nämlich kindlichen Hollywood-Denkens, aber das besiegt man nicht, indem man  Schauspieler verhaftet, sondern im eigenen Inneren. Etwa durch folgende Frage: warum brauche ich eigentlich in meinem Leben Bösewichte im Aussen, die erst besiegt werden müssen, um ein Happy End zu erreichen (die "Zeitenwende", den "Bewusstseinssprung", den "Aufstieg in die höhere Dimension", das Paradies...)? Liegt es wirklich an bösen Menschen da draussen, dass wir selbst nicht "erleuchtet" sind? Werden wir alle erwachen, sobald wir nur genügend böse Menschen eingesperrt haben? Würden die Verschwörungstheoretiker wissen, was Erwachen im spirituellen Sinne ist, wir hätten dieses Happy End vielleicht schon erreicht, und zwar ohne äussere Feindbilder. Denn egal, wie viele Bösewichte man besiegt hat, man wird danach verblüfft feststellen, dass man selbst noch immer derselbe ist! Und das Böse wächst wie das Unkraut nach, weil bei niemandem eine innere Veränderung stattgefunden hat. Solange wir das Böse im Aussen bekämpfen, hat das mit Spiritualität noch gar nichts zu tun, hat man Spiritualität noch nicht mal angekratzt. Nein, der äussere Kampf ist nur das dualistische Gut-Böse-Schema, die "Frucht von Gut und Böse", von der wir schon viel zu viel gegessen haben, und das ist das genaue Gegenteil von Erwachen. Es ist der Fall. Die Welt wimmelt von selbsternannten Erwachten, die sich völlig im eigenen Hollywoodfilm der Gut-Böse-Dualität verloren haben, und das als die Lösung wähnen.

Ein aktuelles Beispiel:

Das Beseitigen von Menschen als Weg ins Glück - eine Ideologie, die nicht nur fundamental falsch und gefährlich ist, sonder auch zutiefst "unspirituell", egal wie sehr man es als "Erwachen" bezeichnet.

Der nächste ironische Umstand ist, dass Verschwörungstheorien beanspruchen, Manipulation aufzudecken, aber regelmäßig selbst der Manipulation dienen. Die Beweggründe sind meist offensichtlich. Die meisten Leser werden zum Beispiel wissen, dass Hollywood eine liberale Hochburg ist, und dementsprechend von der anderen Seite durch Schauergeschichten attackiert wird. Die geballte Emotion, die dabei bei den Anhängern generiert wird, kann dann gegen den unliebsamen Gegner abgefeuert werden. Erwachen bedeutet nicht, eine Verschwörungstheorie zu glauben. Es bedeutet viel eher, die psychologischen (und gesellschaftlichen) Mechanismen zu verstehen, die solche Theorien entstehen lassen. Und das heißt nicht, dass es keine echten Verschwörungen geben kann, oder dass schlimme Dinge nicht tatsächlich passieren würden. Die Frage ist aber: hat das Schwelgen in Drama mit dem Erwachen, von dem die Mystiker sprechen, zu tun?

Wir müssen das Erwachen der Mystiker von dem vermeintlichen Erwachen, von dem das Internet voll ist (Jammern über Politiker, Medien und Industriezweige) unterscheiden, und es ist erschreckend, wie beides vermischt und verwechselt wird. Beides hat tatsächlich sehr, sehr wenig miteinander zu tun, ja steht oft in direktem Gegensatz, denn der Kampf im Aussen dient als willkommene Ausrede, nie nach innen schauen zu müssen (und das trifft auf uns alle mal mehr, mal weniger zu). Der Grundsatz ist:

Es ist nicht Spiritualität, wenn es sich nicht auf das eigene Innere bezieht.

Mystiker meinen mit Erwachen das Auflösen des Egos, das Auflösen gedanklicher Selbstdefinitionen, und ein eigentlich unbeschreibbares psychologisches Phänomen. Die Falle, in die die "Erwachten" ("Ich habe meinen Fernseher schon weggeworfen") tappen: das angebliche Erwachtsein wird zur neuen Selbstdefinition. Sich als erwacht zu definieren ist das Gegenteil von Erwachtsein. Dies drückte Jiddu Krishnamurti in mehreren Formen aus, wenn er etwa meinte: "Zu sagen `ich bin bescheiden' heißt, nicht bescheiden zu sein", oder: "Zu sagen 'ich weiss' heißt, nicht zu wissen". Das Göttliche findet sich hinter unseren Definitionen, nicht in den Definitionen.

Für den Mystiker sind Innen- und Aussenwelt wie gegenseitige Spiegelbilder. Der Fokus muss aber immer auf dem Inneren liegen, das Aussen ist wie eine Reflexion davon. Ein typisches Beispiel, in dem die "gesellschaftspolitisch Erwachten" beides verwechseln, ist das Thema "Souveränität". Der wahre Mystiker ist souverän, unabhängig, eigenständig. Dies verkommt im Aussen zu einer Frage über die Souveränität abstrakter Staatskonstrukte und über mangelhafte Staatsverträge, die "Erwachten" fühlen sich von fremden Mächten besetzt, warten auf ihre Befreiung in Form eines neuen Staatskonstruktes. "Erwachen" heißt für sie, die Idee, besetzt und unterdrückt zu sein, zu glauben - absurd, wenn man nur darüber nachdenkt. "Wann werden wir denn endlich souverän?" fragt eine verzweifelte Frau im Internet, die auf die große militärische Befreiungsaktion von den dunklen Kabalen wartet. Ja, wann?