Montag, 1. August 2016

Der Weltenbaum Teil 11: in der Philosophie

Platon, Neuplatonismus und Weltenbaum, Baum des Lebens
Platon
Das Prinzip des Weltenbaumes ist in der Philosophie am besten von den Neuplatonikern beschrieben worden, die, angeführt von Plotinus (Plotin), die Ideen des großen Platon genauer ausformulierten. Eine Hauptfrage war dabei: wie entstand die Vielfalt unserer Realität aus "dem Einen" (Wikipedia).

Hier kommt wieder der Begriff der Emanation ins Spiel: aus dem einen Urbewusstsein spalten sich demnach fortlaufend immer kleinere Bewusstseinsteile ab. Wie beim Dao (voriger Artikel) wird das "Ausfalten" des Seins aus dem Einen beschrieben, wodurch unsere Realität entsteht. Aus dem Wikipediaartikel zum "Einen":
Das Differenzierte ist nur die Ausfaltung von etwas, das im Undifferenzierten auf eingefaltete Weise vollständig enthalten ist. Durch den Hervorgang oder das Ausfließen tritt eine Vielzahl von Eigenschaften zutage. (Q)
Platon, Neuplatonismus und Weltenbaum, Baum des Lebens
Plotin
Was ist dieses Eine? Es hat selbst keinerlei Eigenschaften, es ist vollkommen einfach und unaussprechlich, es ist "der unerkennbare Urgrund, der sowohl die schöpferische Quelle, aber auch das Ende darstellt in das alle Dinge letztendlich wieder eingehen. Das Eine ist dabei so einfach, dass man nicht einmal behaupten kann dass es existiert."  (Q)

"Einfach" bedeutet hier die Abwesenheit jeglicher Trennungen - es ist ein undefinierbares Alles und Nichts. Das selbe sagte ja Thomas von Aquin (Jahrhunderte später natürlich) in der "Summe der Theologie", nämlich dass Gott "ganz und gar einfach" ist, und zu diesem Sein "sonst keinerlei Eigenschaften hinzutreten" (Q). Es hat auch keine Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis - dazu ist Subjekt und Objekt nötig, siehe auch den japanischen Mythos von Amaterasu (Teil 3).

Das Modell der Schöpfungsebenen der Platoniker

Stufe für Stufe werden aus dieser Einheit weitere Seinsebenen, sogenannte Hypostasen, hervorgebracht (emaniert), die ein weiter zersplittertes und verringertes Abbild der jeweils vorherigen darstellen. Für diesen Prozess ist das Symbol des Baumes perfekt.
Gott ist im wahrsten Sinne nichts als das uranfängliche Sein, das sich in einer Vielzahl von Emanationen und Manifestationen offenbart. Plotinus lehrte die Existenz eines unaussprechlichen, transzendenten Einen, von dem aus der Rest des Universums als eine Abfolge von geringeren Wesenheiten emaniert.
Emanation, Hierarchie - Platon, Neuplatonismus und Weltenbaum, Baum des LebensZuerst entsteht durch die erste Einschränkung der Unendlichkeit das erste Sein, das man überhaupt als solches bezeichnen kann. Es ist für die nachfolgenden Ebenen der "Schöpfergott", der sogenannte "Demiurg", der eine "vollkommene Entsprechung der Einheit ist, und doch nur eine eingeschränkte Ableitung davon". Es ist reiner Geist, und ein Archetyp für alle existierenden Dinge, die in ihm noch "unausgefaltet" enthalten sind.

Man könnte das mit einem unbearbeteten Holzstück vergleichen, aus dem man potentiell unzählige kleine Holzfiguren schnitzen kann.


Dazu diese Stelle, die es auf den Punkt bringt:
In der Ontologie (Lehre vom Sein) der emanistischen Systeme ist die Gesamtwirklichkeit hierarchisch strukturiert. Sie besteht aus einer bestimmten Anzahl von Stufen (Hypostasen). Die oberste Stufe ist durch größtmögliche Einheit (Undifferenziertheit) charakterisiert und wird daher oft „das Eine“ genannt. Von oben nach unten nimmt die Differenziertheit zu. Auf der untersten, am stärksten ausdifferenzierten Stufe erreicht die Entfaltung der Besonderheit ihr Maximum. Sie zeigt sich in der höchst unterschiedlichen individuellen Beschaffenheit der Einzeldinge. Dieser Bereich ist durch die größtmögliche Fülle von einzelnen Merkmalen und Merkmalkombinationen gekennzeichnet. Dadurch erhält die unterste Stufe ein Höchstmaß an Mannigfaltigkeit, aber auch an Zerstreuung und Vereinzelung der Objekte.
Die übrigen Stufen bis hinab zur untersten, der Materie, sind der jeweils nächsthöheren Stufe entsprungen und haben somit ihren Ursprung nur mittelbar in Gott. Wikipedia: Emanation

Dieses "Stufenmodell" ist nichts anderes als die christliche bzw. jüdische Schöpfungshierarchie aus "Engels-Chören". Auch die Parallelen zu anderen spirituellen Lehren wie dem Hinduismus sind offensichtlich. Wieder haben wir hier das metaphorische "Überfliessen" des Einen, wie im 4. Teil erklärt:
Denn da es vollkommen ist, weil es nichts sucht noch hat noch bedarf, so floss es gleichsam über und seine Ueberfülle brachte anderes hervor. Es findet also ein Process vom Ersten bis zum Letzten statt, indem ein jedes immer an seinem Ort zurückgelassen wird, das Erzeugte aber einen andern Rang d.h. einen schlechteren erhält; ...   (Plotin: die Enneaden)
Das heisst in anderen Worten, die Seele bleibt bei der Inkarnation wo sie ist, aber die ausgesendete Inkarnation begibt sich ("träumt" sich) in eine verringerte ("schlechtere") Realität.

Seele und Inkarnation im Neuplatonismus

Platon selbst vertrat bekannterweise die Reinkarnationslehre. Viele Konzepte, die in der heutigen Spiritualität gang und gäbe sind, wurden im Neuplatonismus von Plotin formuliert:
In der geistigen Welt ist die Seele immer ungeteilt. Es liegt aber in ihrer Natur geteilt zu werden, durch das in den Körpertreten, wobei ein Teil von ihr nicht herabkommt. (Q)
Dieses Konzept ist nach wie vor in heutigen channelings zu finden, wonach die Gesamtseele bei der Inkarnation die kleinere menschliche Teilseele aussendet, und die Bewusstseins-Differenz zwischen beiden als Überseele bezeichnet werden kann. Somit existiert die Seele laut Plotin gleichzeitig in 2 Seinszuständen, wobei der hervorgebrachte Seelenteil immer kleiner sein muss, und sich die Dinge dadurch "naturgemäß zerstreuen" (Q). Und da jede Seele unzählige Inkarnationen unternimmt ist ja der Weltenbaum ein so passendes Symbol für die Schöpfung, weil die Zweige immer kleiner sind als der Ast. Plotin kommt zu dem Ergebnis, dass es "nur eine Seele gibt, und doch viele, und zwar mussten aus der einen die verschiedenen abgeleitet sein". (Q)

Was man bei der Emanation verstehen muss - und was ich bisher vielleicht noch nicht betont habe -, ist folgendes:

Das Eine bleibt trotz der Emanationen ganz

Es ist also nicht so wie bei einem zerbrochenen Teller, bei dem jetzt nur noch die Teile existieren, sondern es ist vielmehr so als würde der Teller gleichzeitig als ganzes existieren, gleichzeitig in einem Zustand von 3 Teilen, gleichzeitig in einem von 100 Teilen, in einem von 1.000, einem von 10.000, u.s. (die Zahlen sind jetzt natürlich nur beliebig). Diese Seinszustände repräsentieren nach der christlichen bzw. jüdischen Schöpfungshierarchie die Elohim, Cherumbim, Seraphim, bis zu den Erzengeln, Engeln usw. Es sind verschiedene Hypostasen, oder "Himmel".

Philosoph Hegel, einer der "modernen Neuplatoniker", der das Wirkliche auch als Emanation bezeichnete, über dieses scheinbare Paradoxon:
Die Welt ist nicht [direkte] Emanation der Gottheit, sondern nur Emanation als Teil der unendlichen Teilung der ursprünglichen transzendenten Einheit, wobei diese Teilung paradoxerweise die ursprüngliche Einheit ungeteilt lasse. - Hegel (Q)
Er spricht hier auch an, dass der Mensch nicht "direkt" von "Gott" erschaffen ist, sondern am Ende einer Schöpfungskette steht - eine Idee die so manchem Christen unsympathisch ist.

Und analog dazu heisst es im Hinduismus über das transzendente Eine ("Narayana")
Es ist das vollkommen Ganze, und auch obwohl alles von ihm kommt, ist es immer noch vollständig. (Q)
Egal wie sehr es im Ganzen also wimmelt, das Ganze wird davon nicht verändert. Deshalb nannte Aristoteles Gott ja den "unbewegten Beweger". Und die kabbalistische Lehre sagt das selbe so:
Diese stufenweise Emanation der Schöpfung füllt nicht etwa eine Leere, die in Gott vorher bestanden hätte. Die Unterscheidung zwischen dem unendlichen "Ein Sof" und den folgenden 10 Emanations-Stufen erscheint nur aus eingeschränkter Sicht. Aus Gottes Perspektive sagen die Schriften: "Ich, das Ewige, Ich habe mich nie verändert" (Q).
Es ist faszinierend wie alle spirituellen Richtungen der Welt übereinstimmen. Und im chinesischen Daodejing, Paragraf §4, hört es sich so an:
Das Dao fasst alles Bestehende in sich. Aber durch sein Wirken geht es nicht etwa im Bestehenden auf. Abgründig ist es, als wie aller Geschöpfe Ahn. (Q)
Hier haben wir auch wieder den Vergleich mit einem Verwandtschaftsverhältnis, weil eine Bewusstseinsebene die nächste hervorbringt. Gott ist quasi "Urahn", und die Schöpfung wie ein "Stammbaum" - so wie auch Träume (zumindest die üblichen Verstandes-Träume) von mir selbst hervorgebrachte Kreationen auf einer verringerten Traum-Ebene sind. Auch Plotin verwendete die Traum-Analogie in seinen "Enneaden":
Dies möge denn gegen diejenigen gesagt sein, welche das Seiende in die Körperwelt setzen, wobei sie sich auf den mechanischen Stoss berufen und die Eindrücke der sinnlichen Wahrnehmungen als Beleg der Wahrheit nehmen. Aehnlich wie die Träumenden halten sie das für wirklich was sie sehen, während es doch Traumbilder sind. (Q)
Auf die Traumanalogie, die in den Upanishaden große Bedeutung hat, werde ich noch in einem eigenen Artikel eingehen.

Die Rückkehr zur Einheit laut Plotin

Hier verwendet Plotin explizit eine Baumanalogie:
Wenn jemand an einem Baume die Auswüchse oder die Zweige oben abschneidet, wo ist dann die hierin befindliche Seele hin? Nun, woher sie gekommen ist ... so gelangt sie in die Kraft vor ihr .... In der Seele vor dieser. ...Sie ist also wie ein grosses, weithin sich erstreckendes Leben: jeder der nächstfolgenden Theile ein anderer, ohne dass der frühere in dem folgenden untergeht. (Q)
Nicht nur macht Plotin hier deutlich, dass sich das menschliche Bewusstsein nach dem Tod wieder mit dem Bewusstsein vereint aus dem es hervorgegangen ist, so als würde ein Zweig wieder in den Ast zurückkehren aus dem er hervorgegangen ist, sondern auch, dass bei der Inkarnation die Gesamtseele nicht etwa verschwindet, sondern in 2 Zuständen gleichzeitig existiert.

Und es heisst: "Das Hervorgehen wird im Neuplatonismus als eines der Elemente einer Trias (Dreiheit) aufgefasst, die aus Verharren, Hervorgehen und Rückkehr besteht." (Wikipedia: Emanation) Das entspricht exakt der hinduistischen Götter-Trimurti aus Vishnu, Brahma und Shiva! Und somit entsteht ein Schöpfungszyklus, der wieder in die absolute Einheit zurückführt (siehe auch Teil 10: die Rückkehr der Seelen):
Er [Plotin] lehrt, alles Hervorgegangene wende sich auf seinen Ursprung zurück. In diesem System fällt der Endpunkt des Rückgangs mit dem Ursprung des Hervorgangs zusammen, daher bilden die drei Elemente der Trias – bildhaft ausgedrückt – Momente einer kreisförmigen Aktivität. (Wikipedia: Emanation)
Und darüber wie sich diese Rückkehr auf individueller Ebene vollziehen kann:
Jedes Individuum reflektiert als Mikrokosmos die Ordnung des Ganzen, des Makrokosmos. Für Plotin bestand das Ziel des Menschen in der Umkehr des Emanations-Prozesses, nämlich in der Vereinigung mit den höheren Seinsstufen durch Meditation, also das Erreichen von Gedankenstille und somit die Aufhebung von Fragmentierung in sich selbst (Wikipedia: Henosis).

Platons "Geheimlehre"

Für die Neuplatoniker war es selbstverständlich, dass sie das Erbe Platons getreu fortführten. Aus Sicht der modernen Forschung wurde das aber erst in den 1960er Jahren deutlicher, als an der Universität Tübingen Platons "ungeschriebene Lehre" rekonstruiert wurde - ein Paradigmenwechsel in der Plato-Forschung. Platon hatte seine "esoterische Doktrin", wie sie auch genannt wurde, nämlich nur fortgeschrittenen Schülern mündlich überliefert, weil er sie für die Öffentlichkeit nicht geeignet hielt. Die Neuplatonismus beeinflusste das nachfolgende Christentum ungemein, auch wenn etwa Thoman von Aquin ja eher Aristoteliker war.

Was hält eigentlich die Kirche heute von dem Emanations-Prinzip?

Also was sagt die Kirche zu diesem Konzept, das in allen Erdteilen und spirituellen Lehren zu finden ist, und von dem auch Jesus selbst sprach (Teil 2)?

Sie belegte es 1870 im ersten vatikanischen Konzil mit dem Kirchenbann:
„Wer sagt, die endlichen Dinge – sowohl die körperlichen als auch die geistigen oder wenigstens die geistigen – seien aus der göttlichen Substanz ausgeflossen, […] der sei mit dem Anathema belegt.“ (Q)
Was für eine schreckliche machtpolitische Fehlentscheidung von irgendwelchen wichtigen Männern in Roben, und was für eine Selbstdemontage der Kirche. Wie kann man überhaupt eine Feststellung verdammen, die so simpel und grundlegend ist, wie etwa auch Leibnitz sagt:
Auch neuzeitliche Philosophen haben die Schöpfung als ein Ausfließen des Geschaffenen aus Gott gedeutet. Leibniz meinte, es sei „völlig klar“, dass Gott die erschaffenen Substanzen „unablässig in einer Art von Emanation hervorbringt, so wie wir unsere Gedanken hervorbringen“ (Q)
Emanation ist kein exotisches kompliziertes Konzept. Es heisst eigentlich nur, dass alles eine geistige Kreation ist (womit das Christentum natürlich wie jede Religion übereinstimmt, Jesus: "Gott ist Geist"). Das Christentum kehrte generell das "Stufenmodell" eher unter den Teppich. Man hatte wohl das Gefühl, Gott würde ein Zacken aus der Krone brechen, wenn er den Menschen nicht "direkt und höchstpersönlich" erschafft, vermutlich weil das eine Idealvorstellung ist. So wie es es auch eine Idealvorstellung ist, dass sich die Erde im Zentrum des Universums befindet - nur dass das trotzdem falsch ist...


Dafür beschloss die Kirche auf dem selben Konzil etwas anderes: nämlich die Unfehlbarkeit des Papstes. Ohje....

Links:
Das Eine
Emanation 
Neuplatonismus