Freitag, 9. Dezember 2016

Ist die Welt ein gewaltiger Traum? - Zhuangzi, Descartes, Schopenhauer u.a.

der schlafende Zhuangzi
Nachdem ich behandelt habe, wie Hinduismus und Christentum diese Sache sehen, folgt jetzt der dritte Teil, in dem ich zuerst einen Ausflug in den Osten zu Zhuangzi mache - einem der großen Mystiker des Daoismus - der nicht zuletzt bekannt ist für sein berühmtes Gleichnis vom "Schmetterlingstraum". Nach dem Aufwachen beschleicht ihn nämlich eine schockierende Frage: ist er denn wirklich Zhuangzi, der träumte er war ein Schmetterling, oder ist er der Schmetterling, der träumt er sei Zhuangzi? Diese Hinterfragung der wahren Natur unserer Realität - und was ist überhaupt Realität? - wird noch deutlicher in der nachfolgenden Stelle des selben Werkes - "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland" aus dem 4. Jhdt vor Christus:

Während des Traumes weiß einer nicht, daß es ein Traum ist. Im Traume sucht er den Traum zu deuten. Erwacht er, dann erst bemerkt er, daß er geträumt. So gibt es wohl auch ein großes Erwachen, und danach erkennen wir diesen großen Traum. Aber die Toren halten sich für wachend und maßen sich an zu wissen, ob sie in Wirklichkeit Fürsten sind oder Hirten. Ihr seid Träumende. Daß ich dich einen Träumenden nenne, ist auch ein Traum. Solche Worte nennt man paradox. Wenn wir aber nach zehntausend Geschlechtern einmal einem großen Berufenen begegnen, der sie aufzulösen vermag, so ist es, als wären wir ihm zwischen Morgen und Abend begegnet.

Unser Leben selbst wird hier als "großer Traum" bezeichnet, und der wache Menschen als eigentlich Träumender - wer den vorherigen Teil gelesen hat, wird hier sofort die Parallelen zu manchen Bibel- und Jesussprüchen erkennen, die genau das selbe sagen. Im letzten Satz bezieht sich Zhuangzi noch darauf, wie selten solche "Erwachte" sind. Er selbst war übrigens (ungefähr) Zeitgenosse Buddhas und auch der großen Philosophen Griechenlands.

Ist die Welt ein gewaltiger Traum? Die selbe Frage stellte sich

Rene Descartes im 17. Jhdt.:
Jetzt aber schaue ich sicherlich mit ganz wachen Augen auf dies Papier. So deutlich würde ich nichts im Schlafe erleben!

Ja, aber erinnere ich mich denn nicht, daß ich auch schon von ähnlichen Gedanken in Träumen getäuscht worden bin? – Während ich aufmerksamer hierüber nachdenke, wird mir ganz klar, daß ich nie durch sichere Merkmale den Schlaf vom Wachen unterscheiden kann, und dies macht mich so stutzig, daß ich gerade dadurch fast in der Meinung bestärkt werde, daß ich schlafe.
- René Descartes: Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie
Wir können nie mit Sicherheit sagen, ob wir nicht träumen! Eine Tatsache, die auch Eckhart Tolle öfters ansprach. Und weiter:
Woher weiß ich, daß [Gott] es nicht so eingerichtet hat, daß es überhaupt gar keine Erde, keinen Himmel, keine Gestalt, keinen Ort giebt, und daß trotzdem alles dies mir genau so wie jetzt da zu sein scheint?
- René Descartes: Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie
Descartes grübelt also darüber, ob alles Illusion ist, und ob so eine "Hinterlist" denn mit einem "allgütigen" Gott vereinbar ist. Mit Wertungen muss man natürlich vorsichtig sein. Denn selbst wenn alles Illusion wäre, und wir das als Beleidigung empfinden, würden wir ja doch dieser Illusion das menschliche Dasein verdanken.

Descartes kommt zu dem Ergebnis, dass die einzige Aussage, die wir mit Sicherheit treffen können "Ich bin" ist. Nicht "ich bin dieses" oder "ich bin jenes", sondern nur "ich bin". Diese einzige Aussage, die über Bewusstsein, frei von Illusionen, getroffen werden kann, ist in der Bibel um Jahrtausende vorweggenommen, in der Gott als Yahweh - hebräisch für "Ich bin, der ich bin" - bezeichnet wird.

Springen wir noch einmal 2. Jahrhunderte weiter zu

Arthur Schopenhauer im 19. Jhdt 

Er gehört vermutlich zu jenen Philosophen, die "die Welt als Traum" am ausführlichsten und unmissverständlichsten dargestellt haben, und zwar in seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung". Seine Betrachtungen sind stark von den Upanishaden beeinflusst, die er als "die belohnendste und erhebendste Lektüre, die auf der Welt möglich ist" bezeichnete, und als "den Trost meines Lebens, und den meines Sterbens". Schopenhauer spricht vom "Traume des Lebens", der in unserem Bewusstsein entsteht:
Das Daseyn der Welt hängt an einem einzigen Fädchen: und dieses ist das jedesmalige Bewußtseyn, in welchem sie dasteht. Diese Bedingung drückt ihr, trotz aller empirischen Realität, den Stämpel der bloßen Erscheinung auf; wodurch sie, wenigstens von Einer Seite, als dem Traume verwandt, ja als in die selbe Klasse mit ihm zu setzen, erkannt werden muß.
Diese enge Verwandtschaft kommt in Schopenhauers schönem Ausspruch "Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches" zum Ausdruck.

Schopenhauer bezieht sich immer wieder auf die östliche Weisheit, die, wie er sagt, auch mit Plato übereinstimmen:
Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntniß der wirklichen Welt, welche sie das Gewebe der Maja nennen, keinen bessern Vergleich und brauchen keinen häufiger, als den TraumPlato sagt öfter, daß die Menschen nur im Traume leben.
... Dann wird man dem Plato beistimmen, wenn er nur den Ideen eigentliches Seyn beilegt, hingegen den Dingen in Raum und Zeit, dieser für das Individuum realen Welt, nur eine scheinbare, traumartige Existenz zuerkennt..
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Plato vermittelte im Rahmen seiner Ideenlehre, dass physische Objekte und Vorgänge lediglich "Schatten" ihrer wahren Form sind, und die Welt somit Abbild einer substanzielleren Ebene.

Und nachdem Schopenhauer so die Geschichte der Philosophie Revue passieren lässt, kommt er endlich zu den östlichen Weisheiten, in denen er sich besonders wiederfindet:
Endlich die uralte Weisheit der Inder spricht: Es ist die Maja, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehn läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält.
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Einen guten Überblick über die Weltsicht Schopenhauers bietet dieser Auszug aus Wikipedia. Hier kommt die Trennung in Innen- und Aussenwelt (oder Subjekt und Objekt) zum Ausdruck, die aber - genau wie im Traum! - illusionär ist:
"Die Welt ist meine Vorstellung“ ist der erste Hauptsatz seiner Philosophie. Was uns als Welt erscheint, ist nur für uns, nicht an sich. Es gibt für Schopenhauer nichts Beobachtetes ohne Beobachter, kein Objekt ohne ein Subjekt. Die Welt, als Vorstellung betrachtet, zerfällt in Subjekte und Objekte, die letzten Endes beide nur Erscheinungen des Willens sind. Dieser ist nach Schopenhauer das Wesen der Welt, das sich, in Subjekt und Objekt erscheinend, gleichsam selbst betrachtet. (Arthur Schopenhauer - Wikipedia)
Weil es für Schopenhauer nichts Beobachtetes ohne den Beobachter gibt, kritisiert er die Naturwissenschaften, für die es nur Objekte gibt, aber die Subjekte völlig ausklammert, in deren Wahrnehmung sie erscheinen. Was Bewusstsein angeht, steht die Wissenschaft vor einem Rätsel. Sie bemüht sich, so Schopenhauer, die Vergangenheit zu rekonstruieren, angefangen bei der toten Materie, über chemische Vorgänge, hin zu Vegetation, Animalität bis zum Menschen, um so zum Bewusstsein zu gelangen. Doch Schopenhauer sieht hier einen fundamentalen Irrtum und wendet ein,
daß dieses letzte, so mühsam herbeigeführte Resultat, das Erkennen, schon beim allerersten Ausgangspunkt, der bloßen Materie, als unumgängliche Bedingung vorausgesetzt war.
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Die dargelegte Kausalität hält er für ein Konstrukt unseres Verstandes und einen Zirkelschluss:
Plötzlich zeigte sich das letzte Glied [Bewusstsein] als der Anhaltspunkt, an welchem schon das erste Glied hieng, und die Kette als Kreis; und der Materialist gliche dem Freiherrn von Münchhausen, der, zu Pferde im Wasser schwimmend, sich selbst an seinem Zopf in die Höhe zieht.
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Es scheint durchaus Astronomen zu geben, die genau dieser Problematik Rechnung tragen, wie ich schon in diesem Artikel (bzw. den anderen der gleichen Artikelreihe) angesprochen habe:
Das Universum konnte nur entstehen indem es von jemandem beobachtet wird. Es ist unerheblich, dass der Beobachter erst Milliarden Jahre später auftauchte. Das Universum existiert weil wir seiner bewusst sind.
Martin Reese, Astronom (Q)
Dass Beobachter und Beobachtetes eine untrennbare Einheit bilden, vermittelt - um die große Bedeutung dieses Punktes zu unterstreichen - etwa auch der jüdische Mystizismus, wie Kabbalah-Experte und Philosophieprofessor Michael Laitman darlegt:
Wir vergegenwärtigen uns eine bestimmte Realität um uns, aber tatsächlich ist da nichts; alles ist in uns. Wir unterscheiden lediglich die Realität in "Ich" und "etwas ausserhalb von mir". Wenn sich das offenbart, gibt es keinen Unterschied zwischen "aussen" und "innen" mehr. Alles verschmilzt in einem Punkt. (Q)
Schopenhauer sah diese Weltsicht in völliger Übereinstimmung mit der östlichen Weisheit, aber auch mit den Lehren Immanuel Kants, als dessen Schüler und Vollender er sich betrachtete, und dessen Lehren er als unwiderlegbaren Beweis der "Welt als Traum" erachtete:
Die selbe Wahrheit, wieder ganz anders dargestellt, ist auch eine Hauptlehre der Veden und Puranas, die Lehre von der Maja, worunter eben auch nichts Anderes verstanden wird, als was Kant die Erscheinung, im Gegensatze des Dinges an sich nennt. Kant nun aber drückte nicht nur die selbe Lehre auf eine völlig neue und originelle Weise aus, sondern machte sie, zur erwiesenen und unstreitigen Wahrheit; Solche deutliche Erkenntniß und ruhige, besonnene Darstellung dieser traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt ist eigentlich die Basis der ganzen Kantischen Philosophie, ist ihre Seele und ihr allergrößtes Verdienst.
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Diese "traumartige Beschaffenheit der ganzen Welt" wird natürlich auch im Buddhismus angesprochen, wie dieses Zitat von Osho zeigt:
Buddha sagt dass da kein Selbst ist. Du hast nie existiert, du existierst nicht, du wirst nicht existieren. Du kannst nur träumen dass du bist. - Osho
Um aber endgültig das Leben als "Traum" zu entlarven, was, wie schon Descartes erkannte, ein schwieriges Unterfangen ist, gibt es natürlich nur eine Möglichkeit:
Das allein sichere Kriterium zur Unterscheidung des Traumes von der Wirklichkeit ist in der That kein anderes, als das ganz empirische des Erwachens.
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Dieses Erwachen ist das Ziel jeder Spiritualität und Religion. Die gute Nachricht: spätestens beim Tod wissen wir mehr - der sich dann womöglich als Übergang entpuppt:
Die Besorgniß, es möchte mit dem Tode Alles aus seyn, ist mit dem zu vergleichen, daß Einer im Traume dächte, es gäbe bloße Träume, ohne einen Träumenden.
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Auch wenn dieser Traum zu Ende geht, der Träumer bleibt.... er kehrt lediglich in eine höhere Realität zurück.

Die Reihe: Ist die Welt ein gewaltiger Traum?
1 - Die Upanishaden
2 - Das Christentum
3 - Zhuangzi, Descartes, Schopenhauer u.a.