Das hebräische Wort für
„Rippe“ ist Tsela. Tsela kann zwar Rippe heißen, wird in der
Bibel aber viel häufiger im Sinne von „Seite“ verwendet – so wie die Seiten
einer Truhe. Das Wort kommt im Alten Testament ganze 41 Mal vor, aber nur in
der Geschichte von Adam und Eva bedeutet es „Rippe“. Wenn wir verstehen, wie
die Bibel das Wort in den meisten Fällen verwendet, können wir auch die
Bedeutung des Mythos von Adam entschlüsseln! Sehen wir uns das Wort also genauer an.
In 5 der 41 Verwendungen
bezeichnet Tsela die zwei gegenüberliegenden Seiten der Bundeslade
(ja, die von Indiana Jones). Dann bezeichnet es in Exodus mehrfach die vier
Seiten eines Tabernakels, jenes Schreins, in dem die Hostie verwahrt wird. Dann
bezeichnet es die zwei Seiten eines Altars. In Samuel wird es verwendet, um
einen Berghang, also die Seite eines Berges, zu beschreiben. In Ezekiel
bezeichnet das Wort mehrfach die vier Seiten eines Hauses. Dann gibt es noch
eine Verwendung in der Phrase „das Unheil ist an seiner Seite“.
Das Wort Tsela,
das nur im Mythos von Adam und Eva zur „Rippe“ wird, bezeichnet also immer die
Seiten derselben Sache. Wir nähern uns der Lösung des Rätsels.
Die aufschlussreichste
Verwendung finden wir jedoch im Buch Könige: Dort bezeichnet das Wort
die zwei Hälften einer Flügeltür. Die Symbolik ist interessant: Die Tür ist
eins, besteht aber aus zwei Seiten – eine Dualität!
Dualitäten spielen in Religionen und in der Spiritualität eine große Rolle. Unsere Welt ist von Dualitäten geprägt, auch von der Dualität von Mann und Frau. Der Mythos verdeutlicht, dass der Mensch erst im Zuge des Falls (der Vertreibung aus dem Paradies) in die Welt der Dualität gelangte!
Daraus folgt, dass der ursprüngliche „Adam“ überhaupt kein Mann ist, denn im wahren paradiesischen Zustand gibt es die Unterscheidung von Mann und Frau noch gar nicht!
Adam verstanden die Mystiker vielmehr als engelsgleiches Wesen, das erst später in die
Welt der Materie und Biologie eintritt. Sehen wir uns
einige der Belege dazu an, bevor wir mit der Analyse fortfahren:
"Adam war ursprünglich
androgyn", sagt der Religionswissenschaftler Jacques Menard.[i]
Der Zohar, das Hauptwerk
der jüdischen Mystik, besagt: „Adam ist sowohl männlich als auch weiblich“; "Männlich und weiblich werden somit beim Eintritt in diese Welt getrennt."[ii]
Die
Religionswissenschaftlerin Catherine Kavanagh schreibt: "So wie der Mensch
ursprünglich geschaffen wurde, war er weder männlich noch weiblich, sondern das
perfekte Abbild Gottes. […] Die Trennung der Geschlechter war das Resultat des
Falls."[iii]
Carl Jung schrieb: "Vor der
Erschaffung von Eva war Adam, verschiedenen Traditionen zufolge, sowohl
männlich als auch weiblich."[iv]
Der christliche Mystiker
Jakob Böhme schrieb: "Adam war das Abbild Gottes, er war Mann und Frau, und
doch keines davon."[v]
Der Mythos besagt also nicht, dass die Frau aus dem Mann entsteht. Mann und Frau entstehen beiderseits aus einem nicht-dualistischen Zustand!
Das Wort Tsela ist also genauso zu verstehen, wie es in der Bibel zumeist verwendet wird, nämlich als die "Seiten" ein und derselben Sache: Eine Flügeltür ist eins, und besteht doch aus zwei Seiten, so wie die Menschheit eins ist, und doch aus Mann und Frau besteht. Das Wort verdeutlicht somit eine symmetrische Dualität.
Die Entstehung aus der Rippe ist ein Wortspiel
Die Idee einer symmetrischen Dualität geht bei der Übersetzung als "Rippe" natürlich völlig verloren. Die Genesis verwendet das Wort Tsela, das sowohl Rippe als auch Seite heißen kann, offensichtlich als Wortspiel, um die Teilung von Mann und Frau buchstäblich als Operation an der Seite Adams darzustellen.
Mythen wie diese dürfen nie wörtlich ausgelegt werden! Sie müssen
interpretiert werden wie symbolhafte Theaterstücke. Der Mythos beschreibt also nicht Gott als Chirurg, sondern den Eintritt der Seele in
eine Welt der Dualitäten.
Meine Antwort: "Das Wort Symmetrie meint nicht, dass die zwei Seiten einer Dualität völlig gleich wären. Das sind sie ja nicht, sonst wäre es keine Dualität, sondern eine Einheit. Das Yin-Yang-Symbol ist symmetrisch (bzw. beide Seiten sind gleichförmig), und doch verdeutlichen die zwei Seiten verschiedene Qualitäten. Du kannst dir also, wenn du willst, eine Flügeltür vorstellen, deren linke Seite weiss, und deren rechte Seite schwarz ist."
[i] Menard,
Jacques E. »Beziehungen des Philippus- und des Thomas-Evangeliums zur syrischen
Welt« In: Tröger. Altes Testament – Frühjudentum
– Gnosis: Neue Studien zu »Gnosis und Bibel«. S. 323
[ii] Zohar Englisch, Ekev, Kap. 4, Synopsis; Zohar
Englisch, Tazria, Abs. 24. http://www.phoenixmasonry.org/The_Book_of_Zohar.pdf, oder: http://tiny.cc/zoh
[iii] Kavanagh, Catherine. »The nature of the soul according to Eriugena«. In:
Elkaisy-Friemuth. The Afterlife of the
Platonic Soul. S. 89
[iv] Jung. The Collected Works,
Vol. 9ii: Aion. Abs. 319, 320
[v] Boehme. Mysterium Magnum, Vol.
2. S. 82. Kap. 41:23