Dienstag, 8. September 2015

Ist ein Leben ohne Vorstellungskraft möglich? Und ist das noch menschlich?

Weil ich noch immer das Krishnamurti-Material durchmache, ist mir eine faszinierende Information untergekommen: Krishnamurti hat keine Vorstellungskraft! Wie ist sowas möglich? Und ist das noch "menschlich"? Und zuerst steht natürlich die Frage, was ist Vorstellung überhaupt? Einfach gesagt: Kopfkino! In uns ist dann soetwas wie Zuschauer und Leinwand. Weshalb wir ja sowohl für inneres Kino als auch echtes Kino das selbe Wort verwenden: Vorstellung!

Vorstellungskraft ist, nüchtern gesagt, die Fähigkeit, in sich eine Unterteilung in Beobachter und Beobachtetes zu schaffen. Gemeinhin halten wir das für sehr nützlich: wie könnten wir in unserer Welt leben ohne Vorstellungen von der jetzigen Situation, wodurch wir uns dann Vorstellungen machen können über die gewünschte Zukunft, die wir dann erreichen indem wir Vorstellungen abwägen über Handlungen und ihre möglichen Konsequenzen? Und man kommt drauf: unser ganzes Leben ist eine Vorstellung!

I can't do that.
- J. Krishnamurti zum Thema Vorstellung

Die Mystiker sagten ja schon, unser Leben ist eine Illusion, ein Theaterstück auf der Bühne der Erde. Weil jede Vorstellung nur unser eigenes Produkt ist, und wir selten aus unserem Kopfkino herauskommen in eine, wenn man so will, höhere Wahrheit. Wir sind so eingenebelt von Gedanken, dass ausser den grundlegendsten Sinnesreizen nichts zu uns durchkommt.

Wenn da keinerlei Selbsttäuschung ist, gibt es dann Vorstellungen?
- J. Krishnamurti

Den Artikel schreibe ich natürlich noch vor dem Hintergrund der Serie zu Gedanken, und da habe ich auch hier geschrieben, dass Vorstellungen etwas sind das wir vor uns hinstellen, und uns so in unsere Gedankenwelt zurückziehen. Ein Mensch der keine Vorstellungen hat klingt wie ein seltsames psychologisches Phänomen, eine Kuriosität. Früher hätte man es als Heiligkeit bezeichnet (vorausgesetzt das Wort wurde richtig verstanden) - psychologische Ganzheit. Das alles hängt auch mit dem zusammen was wir unter Meditation verstehen, und wenn dieses Ganzheitserlebnis aus tiefem Verständnis kommt, dann ist sie permanent (Erwachen, Erleuchtung etc...).

Warum hat Krishnamurti keine Vorstellungen? Er sprach immer wieder von der Gefahr sich selbst zu zerteilen. Vorstellungen sind natürlich nichts was wir "gefährlich" nennen würden. Die Mechanismen sind zu subtil, und wir kennen das Leben ja auch gar nicht anders, und so ist uns nicht bewusst was wir da tun, was die Folgen sind, und wie es denn anders ginge. Wenn die Mechanismen aber durchschaut sind, ist diese "Gefahr" so klar, wie es klar ist dass man seine Hand nicht ins Feuer hält.

Menschen wie er (und viele andere Beispiele der Geschichte) leben fast ausschliesslich in dem was ist - "Wahrheit". Bei uns ist es umgekehrt! Wir leben fast ausschliesslich in unserer Vorstellung von dem was ist - unserer "Realität". Und witzigerweise ist die Trennung zu der er nicht fähig ist, genau die Trennung die wir nicht abstellen können! Die Trennung von Beobachter und Beobachtetem in uns.

Was passiert ohne Vorstellungen? 

Das Leben wäre dann - so Krishanmurti sinngemäß - wie ein Fluss der Gegenwart, das heisst, es gibt dann keine Trennung mehr zwischen Aktion und Reaktion - und das ist dann Authentizität und Spontanität!

 Wahrnehmen ist handeln
 (Seeing is acting)
- J. Krishnamurti

Erst durch Denken wird diese einheitliche Bewegung wie durch einen Keil aufgespalten in Aktion und Reaktion - man könnte auch sagen "Impuls" und "Umsetzung". Diese Trennung ist aber nur von uns erfunden.

Wenn jemand keine Vorstellungen hat, heisst das nicht, dass er nicht kreativ ist! Eine Biene ist z.B. sehr kreativ: sie baut Waben, füttert die Larven, fliegt hinaus von Blume zu Blume und sammelt Pollen. Hätte sie Vorstellungskraft, würde sie in der Ecke sitzen und grübeln wie es wäre jetzt die Larven zu füttern, oder obs doch besser wäre ein paar Waben zu bauen, kommt dann zu dem Ergebnis dass sie rausfliegen sollte, und macht am Schluss gar nichts, weil was wäre wenn böse Hornissen draussen sind? Und das nennen wir dann "menschlich"!

Anscheinend verwechseln wir Vorstellungskraft mit Kreativität. Vorstellungen und Tagträume alleine sind erstmal überhaupt nicht kreativ. Kreativität liegt eben in diesem Impuls, der durch tausende Vorstellungen verdeckt wird.

Auch Eckhart Tolle ist "vorstellungslos"...

Eckhart Tolle sagte einmal: "Ich habe keine Meinungen über mich selbst" (Q) - und das ist genau das selbe. Er hat keine Vorstellungen von sich! Er hat kein Bedürfnis sich zu teilen um sich selbst anzuschauen. Ich habe in diesem Artikel vor kurzem schon über das Thema geschrieben: Ein wahrer Meister ist nicht "selbst-bewusst" - Ego, Dualität und Beurteilungen

Dazu passt auch dieser Ausspruch von Krishnamurti: 

Die größte Energieverschwendung ist es, sich über sich selbst Gedanken/Sorgen zu machen.
The greatest waste of energy is to be concerned with oneself. - J. Krishnamurti

Als jemand, der viel über sich nachdenkt, stimmt mich das natürlich nachdenklich :) Und jeder normale Mensch wird sich wahrscheinlich fragen:

Ist das alles noch menschlich?

Denn irgendwie ist es ja schon befremdlich. Schliesslich haben wir ganz bestimmte Vorstellungen davon wie "Menschlichkeit" ausschauen muss. Und diese Vorstellung besagt nun mal, Vorstellungen zu haben. Natürlich ist das aber nicht in Stein gemeisselt. In der Steinzeit war der Mensch noch völlig anders, und in der Zukunft wird er wieder anders sein. Trotzdem halten wir wie immer an dem fest was wir kennen, weil alles Fremde befremdlich ist. Und das, obwohl Menschen im Allgemeinen extrem unzufrieden sind mit sich und der ganzen Welt, immer am Jammern sind, gleichzeitig sind sie aber extrem selbstverliebt in sich so wie sie gerade sind, und daran soll sich nichts ändern. Eine schlechte Kombination!

... oder ist es schon menschlich?

Menschen haben ein eigenartiges Verhältnis zu "Menschlichkeit". Das sieht man schon am Wort, mit dem komischerweise - so als wäre das selbstverständlich - nur gute Dinge gemeint sind. Jemand liest etwas Schlimmes in der Zeitung und sagt: "wo bleibt denn da die Menschlichkeit?!", ohne zu realisieren, dass die nun mal auch so ausschaut. Veränderung kann es nur geben, wenn man die Dinge so anerkennt wie sie sind, nicht indem man sich hinter seiner Idealvorstellung versteckt und ewig jammert dass die Realität davon abweicht. Also was ist menschlich? Und sind wir überhaupt in der Lage das beurteilen zu können?

Emotionen sind auch so eine Sache die man hinterfragen muss. Eckhart Tolle wurde mal in einem youtube-Kommentar als "emotionslos" bemäkelt. Das fand ich ganz interessant, und die Beobachtung ist vielleicht gar nicht falsch (obwohl Eckhart Tolle meist total witzig ist). Währenddessen ist unser Leben voller Drama, im Fernsehen laufen die reality soaps mit nonstop Streit, Geheule und Geschrei und Shows mit falscher Gefühlsduselei, und niemand findet etwas daran. Ist doch "menschlich"! Aber wenn da jemand sitzt mit seiner klaren Präsenz, dann denken sich die Leute, "irgendwas stimmt da nicht..."

Momentan ist es wohl einfach so, dass wir noch zu wenig Vorstellungskraft haben, um uns ein Leben ohne Vorstellungskraft vorstellen zu können :) 


Hinterfrage alles! 
Weisheit heisst zu hinterfragen, was anderen gar nicht in den Sinn käme zu hinterfragen
weil sie in ihrer Realität gefangen sind, mit der sie unzufrieden sind
die sie aber trotzdem mit Händen und Füssen verteidigen würden
weil es alles ist was sie kennen.