Der geheime - oder gar nicht so geheime - Hauptdarsteller des Filmes ist der gewaltige Baum im Zentrum des Geschehens. Um ihn dreht sich alles. Es ist das, was in der Mythologie und Religion als Weltenbaum bekannt ist. Er ist Symbol des Kosmos und der gesamten Existenz. Dies vermittelte auch Jesus in der Bibel, als ihn die Jünger fragten, wie sie sich denn die Schöpfung (das "Reich Gottes") vorstellen sollten. Und Jesus meinte: stellt euch vor, ihr nehmt ein winziges Samenkorn, pflanzt es in der Erde, und daraus erwächst ein gewaltiger Baum, und die Menschen leben nun in diesem Baum wie die Vögel (Gleichnis des Senfkornes). Hier erkennen wir schon die Parallele mit dem im Film dargestellten Volk der Na'vi, die in ihrem Heimatbaum leben. Wenn der Baum ein Modell der Schöpfung ist, so lebt der Mensch aussen in der Peripherie, weit draussen in den Zweigen. Unser Universum mag nur ein solcher Zweig am Baum der Schöpfung sein. Wenn man so will, sind die verschiedenen Ebenen der größeren Äste die Himmelsebenen, die die Religionen beschreiben. Das bedeutet auch, dass der Mensch weit entfernt lebt von der Wurzel, die alles hervorbringt. Was ist diese Wurzel, die Quelle des Seins? Das ist die große Frage, die der Film stellt. Und jeder Mensch hat auf diese Frage eine andere Antwort, und daraus entsteht der in der Handlung dargestellte Konflikt. Sehen wir uns das an.
Fragt man einen religiösen Meschen, so ist die Wurzel des Seins natürlich Gott. Es gibt keine Religion, in der Gott nicht als Baum symbolisiert wird. Fragt man hingegen einen Wissenschaftler, so ist die Wurzel der Urknall. Man verfolgt die Kausalität entlang der Zeit, und findet somit die Quelle. Wäre unser Universum ein Baum, so wäre die Singularität die Wurzel, und auch das ist eine berechtigte Sichtweise. Fragt man wiederum einen durchschnittlichen Menschen, was die Quelle seines Seins ist, also das, was ihn nährt und erhält, so ist es das Essen und Wolle für den Körper, Steine und Metalle für das Haus, und Rohstoffe für die Energie. Das sind unsere Ressourcen - ein Wort, in dem das englische bzw. französische Wort für "Quelle" schon drinsteckt: source. Auch die Natur ist somit die Wurzel, die uns nährt. Und hier kommt die Wirtschaft ins Spiel, denn die stellt sicher, dass wir mit diesen Dingen versorgt werden. Auch das kann man als die Wurzel des symbolischen Baumes betrachten. Wir haben jetzt also schon drei große Bereiche unserer Gesellschaft erwähnt: die Religion, die Wisschaft und die Wirtschaft, Bereiche, zwischen denen alle erdenklichen Dynamiken und auch Spannungen bestehen. Und alle finden unterschiedliche Dinge im Leben wichtig: materielles, spirituelles, oder intellektuelles.
Dazu gesellt sich aber noch ein vierter Bereich der Macht: das Militär. Dieses steckt allzu oft mit der Wirtschaft unter einer Decke, wenn jemand Anderer Ressourcen hat, die man gerne haben möchte. Es gibt aber auch unzählige religiös motivierte Kriege, sodass wir auch die Verbindung zwischen Religion und Militär ziehen können. Genauso aber zwischen Militär und Wissenschaft, die zu modernen Waffen beiträgt. Ein Netzwerk aus Verbindungen entsteht. Was der Film nun macht, muss verstanden werden: diese Bereiche werden personifizert dargestellt. Die Wissenschaft ist personifizirt durch Grace Augustine, das Militär durch Colonel Quaritch, die Wirtschaft durch Parker Selfridge (he's only trying to make "himself rich") die Religion durch die Na'vi, und auch die Natur, in der sich das alles abspielt, bildet eine lebendige Figur. Der Film stellt also einen Querschnitt durch die gesamte Gesellschaft dar. Der Protagonist Jake wird in die Mitte dieses Spannungsfeldes geworfen, und muss diese Kräfte navigieren, Bündnisse abschliessen und Abmachungen treffen - wie eigentlich jeder Mensch! Schlagen wir uns auf die Seite der Religion? Der Wissenschaft? Suchen wir weltliche Macht? Materiellen Reichtum?
Jeder hat eine andere Idee davon, was die Wurzel des Seins ist, und somit eine andere Herangehensweise: die Na'vi repräsentieren einen nahezu paradiesischen Menschen, der sich problemlos mit dem Baum verbinden kann, und somit einen direkten Draht zur göttlichen Wurzel herstellen kann. Das ist alles was sie brauchen. Die Wissenschaftler wiederum können wir im Film dabei beobachten, wie sie Wurzeln untersuchen. Sie stecken Nadeln in die Wurzel, untersuchen die chemischen Vorgänge in der Wurzel, messen die elektrischen Impulse in der Wurzel, entnehmen Proben daraus etc. Auch die Wissenschaftler sind an der Wurzel des Seins interessiert, wenn auch auf andere Weise. Und was die Wirtschaft angeht, so bemisst sich die Wurzel nur in finanziellem, materiellem Wert - für sie ist die Wurzel Ressourcen. Alles das ist symbolisiert im zentralen Motiv des Filmes, dem großen Ziel jeder menschlichen Suche: der Schatz an der Wurzel des Baumes!
Das uralte Motif des Schatzes an der Wurzel
Was ist der Schatz an der Wurzel? Das Motif ist viel älter als man denkt und taucht in Mythen und Märchen auf. So gibt es etwa eine Erzählung, in der der Gott Merkur in einem Gefäß an der Wurzel eines Baumes verborgen liegt. Niemand hat das Motif so genau untersucht wie der "Tiefenpsychologe" Carl Jung. Er schrieb ausführlich über den "Weltenbaum" und stiess auch immer wieder unweigerlich darauf. Als er mit Patienten Experimente zum "Zeichnen aus dem Unterbewusstsein" durchführte, so zeichneten diese immer wieder Baummotive. Oft ähnelten die Zeichnungen Szenen aus alten Mythen, selbst wenn die Probanden mit diesen gar nicht vertraut waren - Mythen sind die Sprache des Unterbewusstseins. Und unter diesen Baummotiven fanden sich eben auch welche, die einen Schatz unter dem Baum darstellten. Zwei Beispiele sehen wir hier:
In der linken Zeichnung sehen wir eine Schatzkiste zwischen den Wurzeln des Baumes, in der rechten einen großen Edelstein. Gezeichnet von Probanden C.G. Jungs. Aus: The Collected Works of C.G. Jung, Volume 13: Alchemical Studies; Kapitel II: On the history and interpretation of the tree symbol, 1. The tree as an archetypal image.
Für Mystiker ist der Schatz der Ursprung der Seele, und könnte in Meditation oder in einer Erleuchtungserfahrung gefunden werden. Die Na'vi haben diese Verbindung ohnehin schon. Sie sind schon in Besitz ihres Schatzes. Was ist, wenn der Mensch einer solchen spirituellen Verbindung nicht mehr fähig ist? Der Schatz verkommt zu etwas rein materiellem, und man denkt: warum nicht einfach den Baum zerstören, und nach dem Schatz greifen? Offensichtlich ist das eine sehr andere Weltsicht, die nicht in Harmonie mit der Gesamtheit des Seins steht. Der Film stellt deshalb einen Kampf rund um Erhalt oder Zerstörung des Weltenbaumes dar, ein Konflikt aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen, was denn die Wurzel unseres Seins ist. Die Geschichte erreicht dadurch einen psychologischen Tiefgang, der selten in Filmen erreicht wird. Der Erfolg von Avatar ist deshalb in seiner archetypischen Symbolik zu suchen, die (fast) jeder Mensch unterbewusst versteht, egal wo er lebt oder in welcher Kultur. Umso erstaunlicher ist es, wenn manche meinen, der Film hätte keinen Tiefgang. Ich bin mir nämlich sicher, dass der Tiefenpsychologe Carl Jung widersprochen und großen Gefallen an dem Film gehabt hätte. Es ist ein großartiger alter Mythos in modernem Gewand.