Samstag, 19. November 2016

Ist die Welt ein gewaltiger Traum? - die Upanishaden

Vishnu träumt Welten

Ist alles um uns Geist? Ist alles eine Struktur aus Träumen innerhalb von größeren Träumen? Das ist eine zentrale Aussage in Spiritualität und Religion, etwa im Hinduismus, aber auch im Christentum, und auch Philosophen wie René Descartes und Arthur Schopenhauer haben sich darüber den Kopf zerbrochen (wie ich noch zeigen werde). In diesem Artikel soll es aber zuerst um die Upanishaden gehen: die hinduistische Kosmogonie besagt nämlich, dass Gott Vishnu "die Welt im Schlaf träumt" (Q). 

Was das genau heißt ist nirgends so deutlich dargelegt wie in den sogenannten Mândûkya-Upanishaden! 

Die höchste Wirklichkeit ist demnach das eine Allbewusstsein, von dem die Vielheit der Formen lediglich als Illusionen hervorgehen ("Alle Vielheit ist Blendwerk, Vielheitlos ist die Wirklichkeit.") Und auch unser menschliches Dasein vergleichen die Upanishaden folglich mit einem Traum, aus dem wir wieder in höhere Realitätsebenen "aufwachen". Hier wird diese Traumanalogie erklärt (eckige Klammern von mir):

Alles, was wir im Traum sehen ist unwahr,
Weil alles dies nur inwendig [in unserem Bewusstsein] ist.

So wie Vielheit im Traum nur inwendig ist,
So ist sie es auch im Wachen;
Hier wie dort ist nur Vorstellung.

Der Zustand des Träumens und Wachens
Als derselbe gilt den Weisen,
Denn beiden ist die Vielheit gleich.

Was hier mit "Vielheit" gemeint ist, ist leicht erklärt: wenn wir im Traum scheinbar von vielen Objekten umgeben sind, ist es doch lediglich unser eigenes Bewusstsein. Das können wir auf unseren Wachzustand ummünzen, wobei die Upanishaden jetzt das Bewusstsein als wahre Quelle der Aussenwelt darstellen :

Wenn nun beiderlei Vielheiten
Unwahr im Traum und Wachen sind,
Wer erkennt beide Vielheiten?
Wer stellt sie sich im Bewufstsein vor?

Durch Selbsttäuschung stellt das Atman [Seele/Bewusstsein]
Sein Selbst durch sich selbst vor.

Als draufsen und als notwendig
Stellt der Atman es sich in sich vor.

Es wird hier geschildert, wie "Vishnu" (und überhaupt jedes Bewusstsein) Welten nach aussen projiziert, sie sich also aussen vorstellt, obwohl sie doch auch im inneren sind. Es hört sich ein bisschen so an, als würde das Innere nach aussen gestülpt, so wie wir es auch im Traum tun. So entsteht eine illusionäre Spaltung von Innen und Aussen:

Als Blendwerk nur besteht die Spaltung
jenes Einzigen, Ewigen [Vishnu].

Wahrheit ist aber die Unzweiheit,
Zweiheit ist nur in der Spaltungswelt;

Im Traum erleben wir eine Spaltung zwischen Traumpersönlichkeit und Traumumgebung, obwohl beides in uns existiert. Diese "Zweiheit" von Innen und Aussen ist vielleicht die grundlegendste Form dessen was Dualität genannt wird.

"Vishnu" bringt Seelen hervor in Form von seinen "Traumpersönlichkeiten", die je nach ihrer Perspektive Innen und Aussen wahrnehmen:

Die Seele stellt man vor erstlich,
Sodann die Getrenntheit der Dinge,
Der inneren und der äusseren.

Traumpersönlichkeiten können weitere Traumpersönlichkeiten hervorbringen, und diese wiederum, ssodass das entsteht was gemeinhin Schöpfungsebenen oder Himmelsebenen genannt wird (im Hinduismus ist von 7 himmlischen "Lokas" die Rede). Es ensteht eine baumartige Struktur die im archetypischen Symbol des "Weltenbaumes", der bei den Hinduisten "Ashwatta" heisst, perfekt veranschaulicht ist. Das habe ich in diesem Artikel erläutert, deshalb gehe ich hier nicht weiter darauf ein. Und so wird auch unser Universum als Maya, Illusion bezeichnet (runde Klammern im Original vom Herausgeber):

Wenn er uns als Prâna, als
all die vielen Dinge erscheint,
So ist das alles nur Blendwerk (mâyâ)
Mit dem der Gott sich selbst betrügt.

So wie man eine Wüstenspiegelung
Als Traum und Blendwerk erkennt,
So sieht man auch dieses Weltganze (Universum).

Auch das Universum ist ein göttlicher "Traum". Man sollte jetzt nicht glauben, dass wir Menschen selbst mit unserem winzigen Bewusstsein das Universum erschaffen würden. Das wäre etwas viel verlangt. Es wird eher vermittelt, dass aus hohen Schöpfungsebenen das Universum "erträumt" wird, und es somit kleineren Bewusstseinseinheiten als Erlebensbühne dient. Aber egal "woher" dieses Bewusstsein auch kommt, die grundlegende Aussage ist, dass unsere Innen- und Aussenwelt aus dem selben "Stoff" sind, auch wenn wir das (genau wie in einem Traum) momentan nicht erkennen.

Die Analogie von Traum und Realität wird hier noch einmal betont:

Wie in des Traumes Scheinvielheit
der Geist irrtümlich verstrickt ist,
Ebenso in des Wachens Scheinvielheit
er irrtümlich verstrickt ist.

Die deutschen Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert sind übrigens schrecklich, sie hören sich oft an wie Yoda aus Star Wars. Hier deshalb die nächste Stelle, die ich aus einer sehr guten, besser lesbaren englischen Übersetzung übernommen habe:

Die Objekte die dem Selbst als getrennt erscheinen sind nicht getrennt.
Wer das erkennt, kennt die Essenz der Upanishaden. Die Weisen verstehen,
dass das Universum nicht real ist, wie Objekte die im Traum erscheinen
nicht real sind im Vergleich zum Wachzustand.

Diese psychologische Trennung von Subjekt und Objekt zu überwinden, ist "Erleuchtung". Es heisst in den Upanishaden: "Ich verneige mich vor jenem Wissen, das nicht unterschiedlich ist vom gewussten Objekt." Das ist dann nicht abstraktes Verstandeswissen, sondern echtes, direktes Wissen, bei dem keine Trennung zwischen dem Wissenden und dem Gewussten existiert - dazu unbedingt die Artikelreihe "Was sind Gedanken" lesen! Unser Verstand ist aber immer in dieser Spaltung gefangen, die er aus eigener Anstrengung auch nicht aufheben kann - das nennen auch heutige Philosophen die "Subjekt-Objekt-Spaltung (Wikipedia)".

Dieses fundamentale Thema behandelten die Upanishaden schon vor vielen Jahrhunderten:

Was zweifach als Subjekt-Objekt
Scheint, ist Bewufstseinsschwingung nur;
Der Geist jedoch ist ewig objektlos.

Der Weisen Ziel ist dieses ew'ge
Zweiheitlose Identischsein.

Wahrnehmungslos und objektlos,
Das heifst die Überweltlichkeit;
Ihr Subjekt ist zugleich Objekt,

Das lehrten Weise aller Zeit.

So wie meine Umgebung im Traum nicht unabhängig von mir existiert, so bin ich auch im Wachzustand untrennlich mit dem Sein verbunden:

Das Ding und seine Vorstellung
Bedingen sich gegenseitig;
Bestandlos ist jedes für sich,
Nur im Bewufstsein stehn sie da.

Für diese Weisen gab es kein "mein" und "dein", kein "Ich" und kein "Ding", sondern eben nur "Sein". Das wird durch die Erkenntnis erreicht, dass hinter allem die selbe Lebenskraft steht. Dieser "erwachte" Zustand, so heißt es, ist eigentlich unser natürlicher Zustand:

Alle Wesen sind ursprünglich
Urerweckte (âdihuddha) das ist gewifs; —
Wer dieses sich genug sein läfst,
Der ist reif zur Unsterblichkeit.

Nicht anders wie das Christentum (vgl. Fall von Eden) vermitteln die Upanishaden, dass uns dieser Zustand verloren gegangen ist. Unser Bewusstsein hat sich - wie Eckhart Tolle es oft ausdrückt - von einem umfassenden "Raumbewusstsein" zu einem zersplitterten "Dingbewusstsein" reduziert. Wir sind, wie Jiddu Krishnamurti es nannte, zu fragmentierten Wesen geworden:

Doch diese Reinheit ist nicht mehr,
Wenn sie vielfach zersplittert sich;
Vielheitversunken, zwiespältig
Heifsen sie darum armselig.

Den Zustand des Einheitsbewusstseins, der eigentlich natürlich sein sollte, und von dem nur noch in Legenden berichtet wird, können wir heute lediglich durch Drogen annähernd erreichen. Über die wissenschaftlichen Versuche mit LSD berichtet dieser seriöse Zeitungsartikel (standard.at): Wie sich durch LSD das Ich auflöst. An den Zitaten zeigt sich, dass der "Traum" unseres Daseins eine ganz andere Qualität annehmen kann:
"Wer die Droge einnimmt, hat das Gefühl mit der Umwelt zu verschmelzen" ... "ein Verschmelzen der Außenwelt mit der eigenen Innenwelt" ... "ein Zustand des 'allumfassenden Bewusstseins'" ... "ein Phänomen, das auch als 'Ich-Auflösung' bekannt ist" (Q)
Es ist im Artikel davon die Rede, dass man aufgrund der Droge die "Fähigkeit" verliert, Innen und Aussen zu trennen, als wäre das die großartigste Sache - eine völlig verkehrte Sichtweise. Ist es nicht eher so, dass wir Menschen die Fähigkeit verloren haben, Einheit mit dem Sein wahrzunehmen?!

Über die Überwindung von Innen und Aussen hatte auch Jesus einiges zu sagen. Darüber mehr im nächsten Artikel, wenn es darum geht was das Christentum zum Thema "Welt als Traum" zu sagen hat!

Die Reihe: Ist die Welt ein gewaltiger Traum?
1 - Die Upanishaden
2 - Das Christentum
3 - Zhuangzi, Descartes, Schopenhauer u.a.